Heilkunst der Wikinger

Es liegen generell sehr wenige Unterlagen über das medizinische Wissen der Wikinger vor. Man vermutet, dass das Medizinhandwerk überwiegend von den Frauen praktiziert wurde. Nachdem sie in den meisten Sagas so sehr im Hintergrund agieren, erfährt man nicht sehr viel über ihre Tätigkeiten, sogar männliche Vertreter werden nicht sehr ausführlich beschrieben, sofern sie erscheinen. Im Einzelnen besetzten die Männer nach beginnendem Auftreten des Christentums im gesamten Europa die offiziellen medizinischen Posten und den Frauen blieb nur übrig, im Haushalt die ersten Ansprechpartner für die alltägliche Gesundheitspflege zu sein.

Wundversorgung

In Olafs Saga Helga, Teil von Snorri Sturlusons Heimskringla, wird in Kapitel 234 eins der wenigen Beispiele von Wundversorgung der Wikingerära gegeben:
„Thormod ging in eine abseits gelegene Kammer, in der viele Verwundete lagen und die von einer Frau versorgt wurden. Es gab ein Lagerfeuer, an dem sie Wasser wärmte, um die Wunden zu säubern und auszuwaschen. Thormod setzte sich neben sie und eine Frau kam herein und eine ging, alle mit der Versorgung der Verletzten beschäftigt. Eine Frau wandte sich an Thormod: „Warum bist du so blass? Bist du verletzt? Warum bittest du nicht die Heiler um Hilfe?“

Thormod begann daraufhin folgende Verse zu singen:

"Not ruddy am I: and red cheeks,
ring-dight slender woman,
has your husband. No one heeds
my grievous wounds, though.
Pale I am with pangs of
pain, scatterer-thou-of-
gold, from deep wounds deadly
Danish arrows gave me

(Ich bin nicht rot: und rote Backen
Ring-band schmale Frau
hat dein Mann. Niemand beachtet
meine schweren Wunden, jedoch.
Blass bin ich vor quälendem Schmerz,
o Fürstin,
von tiefen Wunden, die mir
die tödlichen dänischen Pfeile rissen.)

Dann stand Thormod auf und ging auf das Feuer zu und stand dort eine Weile. Eine junge Frau sagte zu ihm: Kerl, geh hinaus und bring von dem Feuerholz, das neben der Tür liegt. Er ging hinaus und brachte einen Schwung Holz mit, den er auf den Boden warf. Die junge Wundversorgerin sah ihn an und sagte: „ Dieser hier sieht aber verdammt blass aus, woher kommt es?“

Thormod begann wieder zu singen:

"Wonders the woman why so
wan the tree-of-combat.
Few from wounds grow fair-hued:
found me the flight of arrows.
The ice-cold iron,
linen-elm,
flew through my middle.
Hard by my heart, think I,
hit me, the baleful weapon."

(“Die Frau wundert sich, warum
Der Krieger so blass ist.
Wenige haben verwundet eine normale Gesichtsfarbe:
Mich traf ein Langbogenpfeil.
Der eiskalte Stahl,
Frau,
traf mich mitten in der Brust,
Die unheilvolle Waffe traf mich
Vermutlich knapp neben dem Herz.)

Das Mädchen sagte: „Lass mich deine Wunden sehen und ich werde sie verbinden“. So setzte sich Thormod, legte seine Kleidung ab und ließ das Mädchen die Wunden untersuchen. Sie ertastete, dass in seiner Seite ein Stück Eisen saß, konnte aber nicht herausfinden, wo es eingetreten war. In einem steinernen Gefäß vermengte sie Lauch und andere Kräuter, kochte das Gemisch auf und gab den Verletzten davon zu essen. So konnte sie feststellen, ob der Bauch mit verletzt worden war, da sie dann die austretende Suppe roch. Auch Thormod bekam von ihr die Zubereitung und wurde angewiesen sie zu essen. Er antwortete: „Nimm das weg, ich habe keinen Appetit auf Brühe.“ Sie nahm dann eine große Zange und versuchte das Stück Eisen herauszuziehen, aber es saß zu fest und bewegte sich kein Stück. Da die Wunde zudem noch geschwollen war, hatte sie nicht viel Material das sie mit der Zange ziehen konnte.

Thormod wies sie darauf an: „Schneide so viel wie nötig heraus um das Eisen mit der Zange greifen zu können und lass es mich dann mit der Zange herausziehen. Sie tat, wie ihr geheißen wurde. Dann nahm Thormod einen goldenen Ring von seiner Hand und gab ihn der Wundversorgerin zur freien Verfügung. „Er ist das Geschenk eines guten Mannes“, sagte er, „König Olaf gab ihn mir heute früh“, nahm die Zange und riss das Stück Eisen heraus. An dem Stück Eisen war aber ein Haken, an dem einige Fleischfasern hingen, ein paar weiße und ein paar rote. Als er das sah, sagte er: „Der König hat uns gut ernährt, ich bin fett, sogar am Herzen…“, lehnte sich zurück und war tot. Und so endet das, was wir über Thormod erzählen können.

Desweiteren gibt es Berichte von folgenden Operationen:

  • Entfernung von Pfeilen aus der Schlund-/Zungenwurzelgegend
  • Nähen eines Nackenschnitts mit Sehnendurchtrennung
  • Amputationen mit Prothesen
  • Wiedereröffnung entzündeter Wunden

Im skandinavischen Gesetzessystem gab es außerdem diverse Kompensationszahlungen (Wergeld) für Verwundungen, die zum Teil aufgrund der Knochengröße/des Gewichts bei Amputationen bzw. des Aufwands der Wundversorgung berechnet wurden.

Kräuter

Über die Verwendung von Kräutern ist aus der Wikingerzeit sehr wenig bekannt. Die ersten Kräuterverzeichnisse und weitergehenden Medizinbücher wurden nicht vor dem 13./14. Jahrhundert und nach der Einführung des Christentums verfasst und zeigen alle eine hohe Beeinflussung der Vorgehensweisen und Wissensstände durch die „4 Körpersäfte“-Theorie aus Salerno, Italien, letztlich fußend auf den Erkenntnissen des griechischen Physikers Galen und auf arabischer Medizinkunde von Avicenna.

Das vielleicht erste kräuterkundliche Buch aus Skandinavien dürfte „Urtebogen“ oder „Das Buch der Kräuter“ von Henrik Harpestreng (gest. 1244) aus Roskilde in Dänemark sein. Harpestrengs Herbarium enthält Übersetzungen aus Macers De Viribus Herbarum (ca. 1090) und De Gradibus Liber von Constantinus Africanus (1050, Salerno).

Trotz alledem kannten die Heiler und Wunderversorger der Wikingerära sicherlich heilende Kräuter, manche erwiesenermaßen hilfreich und manche deren Wirksamkeit man eher ihrer Zauberkraft zuschrieb. Ein in ganz Skandinavien sowohl in Küche wie auch Medizin intensiv genutztes Gewächs war „hvönn“ (Angelica officinalis) = Engelwurz.




Quelle: www.vikinganswerlady.com/medicine.shtml